Uwe Zenske

 

Albenstein

 

Leseproben:

Kapitel 5

Das Mädchen im beigen Trenchcoat war anmutig, schlank, atemberaubend. Noch keine zwanzig. Sie schien nicht erstaunt, ihm zu begegnen, nur etwas ungehalten.

“Verzeihung”, sagte er, “wenn ich geahnt hätte ...” Er wunderte sich, daß er auf einmal so redselig war.

Der schmeichelnd süße Duftnebel eines Chypre-Parfums begann sogleich, seine Widerstandskraft zu zersetzen.

“Schon gut.” Sie kräuselte die Nase und nestelte mit flinken, kleptomanischen Fingern an einer Zigarettenschachtel. Prompt fiel sie ihr aus der Hand.

Er hätte sich niemals danach bücken dürfen. Nicht an diesem Abend.

Sie raucht zu viel, dachte er. Als ginge ihn das etwas an. Er hob die Schachtel auf und gab sie ihr zurück.

Deuteten ihre Lippen ein Lächeln an? Das träumte er sicher nur. Er suchte in seinem Sakko nach Streichhölzern.

“Hab’ ich selbst”, sagte sie kühl.

Eine endlose Sekunde lang blickte er in ein blasses, orientalisch geschnittenes Gesicht. Augen von der Farbe später, überreifer Kirschen. Der betörende Mund einer raffaelischen Madonna.

Sie griff in ihre Handtasche und öffnete diese beiläufig etwas weiter, als nötig gewesen wäre. Er sah ein paar Zoll verchromten Stahls und den Glanz von Perlmutter. Eine niedliche Pistole, wie Frauen sie mögen. Dagegen war nichts einzuwenden.

Ein goldenes Feuerzeug flammte auf. Ihre dunklen Augen sprühten Funken. Sie öffnete die Lippen und ihn überrann ein unheilvoller Schauder. Es war schon zu spät, um davonzulaufen. Viel zu spät.

Sie blies ihm Rauch ins Gesicht, sog ausgiebig an ihrer Zigarette, betrachtete seine Hände, ließ sich Zeit. “Weißt du, wie lange ich schon auf dich warte?” Die sanfte Melodie ihrer Stimme brachte eine Saite in ihm zum Schwingen. Er hätte ihr stundenlang zuhören können.

.......

Kapitel 6

Im Flur wurde irgendetwas umgestoßen. Es hörte sich wie der Schirmständer an. Oder wie die Schale auf der Spiegelkonsole, in der man, als der Kaiser noch in Berlin weilte, seine Handschuhe ablegen durfte. Vielleicht war es auch die Vase mit dem Seidenblumenstrauß.

Der Hund wird etwas angerichtet haben, dachte Maxim.

Es wäre an sich eine gute Erklärung gewesen. Aber er lag friedlich inmitten seines Puppenharems auf dem Sofa und schnarchte.

Maxim blickte zur Tür. “Ist es schon Zeit für den Kellner mit dem Sekt?” Er fühlte sich auf einmal unbehaglich.

Little Caesar erwachte und grummelte leise vor sich hin. Dann reckte er den Hals und zeigte, indem er hörbar den Atem ausblies, seine Fangzähne.

“Ach, Scheiße”, maulte das Mädchen. Sie sprang auf und raffte ihren Morgenrock über der Brust zusammen.

“Da du gerade stehst”, sagte Maxim, “laß doch bitte das Rondo noch einmal laufen.”

“Was soll ich?”

Die Tür wurde geöffnet. Gemächlich. Von jemandem, der viel Zeit mitbrachte. Er war blond, Anfang dreißig, trug einen weit geschnittenen, kaffeebraunen Anzug. Auf den Kreidestreifen hätte er getrost verzichten können. Die Schuhe mit den cremefarbenen Kappen waren auffällig genug.

“Die Vorstellung ist doch nicht etwa schon zu Ende”, grunzte er.

Maxim erinnerte sich nicht, daß jemand angeklopft hatte. Manieren waren anscheinend aus der Mode, sogar schlechte.

Der Mann war ungefähr einsfünfundachtzig hoch, soweit sich das vom Bett aus schätzen ließ, und beinahe ebenso breit. Maxim staunte, daß er überhaupt durch den Türrahmen paßte. Ein über hundert Kilo schweres Muskelpaket. Hände, die einen Ochsen erwürgen konnten. Er kam so gelassen herein, als gehörten ihm die Wohnung, das Mobiliar und auch das Mädchen. Ein Spießgeselle begleitete ihn.

“Du hättest ruhig im Sattel bleiben dürfen”, sagte er. “Ich schaue dir gern bei der Arbeit zu.” Er hatte eine rauchige, schleppende Stimme mit einem unangenehmen Nachklang, als würde Fleisch von einem Knochen geraspelt. Man durfte ihm zutrauen, einer Katze ungerührt ein Auge auszudrücken. Nur, weil gerade Montag war.

Maxim streifte flüchtig der Gedanke an die Derringer, in deren Kammern sicher zwei Patronen steckten. Für jemanden, der Handschellen trug, war es ein seltsamer Einfall. Beinahe komisch.

.......

Kapitel 9

Maxim wollte um eine Querflinte bitten, deren Balance er für die Flugwildjagd bevorzugte, wurde aber von dem Riß an Janiks Fingernagel abgelenkt. Neben dem Schorf zeichnete sich eine hellrote Linie frischen Blutes ab.

“Die Vögel sehen immer doppelt so groß aus wie sie sind”, sagte der Priester. Er unterstrich seine Worte mit einer theatralisch ausladenden Geste, verzichtete aber abrupt darauf, sie zu vollenden, um Krümel eines dunklen Schnupftabaks von seinem Ärmel zu wischen.

Aus dem Hundefell stieg ein betäubend strenger Geruch nach Holunderblüten und abgebranntem Schießpulver auf.

Maxim empfand einen leichten Schwindel. Er sah einen Waldsaum vor sich ... und einen Graben, in den man sich tief hineinducken konnte, verdeckt von Gebüschen und wucherndem Kraut. Er hörte das Summen unzähliger Insekten. Mückenstiche juckten in seinem Nacken.

“Die alte Purdey”, sagte jemand. Die letzte Silbe hallte unheimlich nach wie ein Orgelton in einer Kathedrale.

Zwei Tauben stürzten, in Federwolken gehüllt, steinschwer in hohes Gras.

Jemand schnippte mit den Fingern.

Ein schlanker, muskulöser Hund setzte zum Sprung an. Links und rechts von sich vernahm Maxim Männerstimmen. Sie klangen melodisch wie ein Wechselgesang von Mönchen. Wenn er aufblickte, verdunkelte ein Mantel die Sonne. Lederstiefel ragten neben ihm empor, so nah, daß die Ausdünstungen der Schuhwichse seine Nase reizten.

Ich muß mich einen Augenblick setzen, dachte er. Sein Rücken stieß hart gegen die Stuhllehne. Ein Messer fiel klirrend auf seinen Teller.

“Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen”, fragte der Diener besorgt.

“Sie essen zu wenig”, verkündete Pater Stephan.

“Ich werde noch ein Stück Ziegenkäse nehmen”, sagte Maxim. Er beobachtete, wie die Wülste der Kaumuskeln im Gesicht des Priesters hervortraten, während er seine Zähne in das mit Kräutertee getränkte Weißbrot schlug.

“Sobald Sie sich eingewöhnt und Kathis Küche schätzen gelernt haben, wird es Ihnen gleich besser gehen”, versprach der Geistliche. “Sie werden das Gefühl haben, endlich von einer viel zu langen Reise heimgekehrt zu sein.”

“Die Aussicht beunruhigt mich eher”, gestand Maxim. Er griff, noch immer ein wenig benommen, rasch nach seiner Tasse. Der Tee schwappte über ihren Rand.

Nichts, dachte er, nichts würde von diesem Tag an jemals wieder so sein, wie es gewesen war.

.......

Kapitel 11

“Sollte ein Witz sein”, grummelte der Kommissar, “zur Abwechslung von mir. Warum lachen Sie nicht?”

“Weil er kein Linkshänder ist”, sagte Roßknecht matt.

“Müßte sich mir die Komik der Bemerkungen erschließen?” fragte Maxim.

“Kommt darauf an ...” Gruber knabberte noch ein Blätterteig-Schnittchen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ unbeholfen die Schultern kreisen. “Wenn Sie zur Tatzeit am Tatort waren ... Aber die Welt ist voller ärgerlicher Alibis. Natürlich besitzen Sie auch eines. Heben Sie es gut auf. Wir werden ein andermal darüber reden. Zeig ihm doch mal die Bildchen, Paul.”

Roßknecht spitzte die Lippen und pfiff lautlos vor sich hin. Er blätterte drei Photos auf den Tisch wie Trümpfe bei einem Kartenspiel. Aber es war dreimal derselbe Bube, en face und im Profil. Maxim sah einen blonden, zartgliedrigen jungen Mann. Seine Mutter hatte ihm vermutlich nie einen Wunsch abschlagen können. Das hübsche, ebenmäßige Profil verlangte nach einem schmeichelnd weichzeichnenden Objektiv. Der Photograph, ein Holzfäller, der mit der Axt besser umzugehen verstand als mit der Kamera, hatte ihn übertrieben scharf ausgeleuchtet. Sein Blick wirkte dadurch unnötig anmaßend und herausfordernd, als hätte ihm jemand soeben Geld angeboten, aber für seine Ansprüche bei weitem nicht genug.

“Hat er in letzter Zeit bei Ihnen geklingelt?” fragte der Kommissar.

“An Strichjungen fehlt mir jedes Interesse”, sagte Maxim. Er hatte dennoch den Eindruck, der junge Mann wäre ihm auf eine unbestimmte, ziemlich entlegene Weise vertraut. “Wer ist das?”

“Ihr Schwager”, sagte Gruber.

“Antonio? Der jüngere Bruder meiner Frau?”

“Wie kommt es, daß Sie ihn auf den Photos nicht wiedererkennen?” wollte der Kommissar wissen. “Hat er sich in den letzten acht Jahren so verändert?”

“Wir sind uns leider nie begegnet”, versicherte Maxim. “Er lebt in Marokko, soviel ich weiß. Meine Frau hat mir bestimmt irgendwann Bilder von ihm gezeigt. Vermutlich war er darauf viel jünger. Wir hatten ihn natürlich zu unserer Hochzeit eingeladen, aber er wurde kurz vorher krank.

“Das Essen im Knast bekommt den meisten nicht”, sagte Gruber.

“Hat er Ärger mit der Polizei?”

“Momentan nicht. Er ist ja erst seit ein paar Wochen wieder draußen.” Der Kommissar schloß die Augen und knetete seinen Nasensattel. Eine plötzliche Zerstreutheit machte ihm offenbar zu schaffen. “Erstaunlich, daß  er keinen Kontakt mit Ihnen aufgenommen hat.”

“Warum sollte er?”

Gruber hüstelte unwillig. “Weil er Geld braucht. Und Sie haben welches, wie man nicht übersehen kann.”

“Ich wünschte, Sie hätten recht”, lächelte Maxim.

Eine Stubenfliege schwebte heran, ließ sich auf einem der Photos von Antonio nieder und betupfte mit ihrem Rüssel sein Gesicht. Maxim versuchte, sie durch eine Handbewegung zu vertreiben. Das beeindruckte sie nicht. Sie wich ihm aus und kam wieder zurück.

“Nett, wie Sie sich um ihn kümmern”, höhnte der Kommissar.

“Für seinen Lebensunterhalt braucht er mich nicht”, erwiderte Maxim. “Er wird immer jemanden finden, der seine Rechnungen begleicht.”

“Na klar.” Gruber zupfte vorsichtig an seinem Pandurenbart, als hätte er ihn nur angeklebt und müßte prüfen, ob der Kleister noch hielte. “Ist ja heute ein Beruf wie jeder andere. Steuer- und sozialabgabenpflichtig.”

“Womit hatte er sich die Klausur verdient?”

“War vernarrt in scharfe Messer ... wie viele von diesen Jungs. Geht selten gut aus.”

.......

Kapitel 12

“Anscheinend kannst du Gedanken lesen”, sagte Maxim. “Und ich hoffe, du hast für heute abend noch nichts vor.”

“Hallo ... Schatz.” Sarahs Stimme hörte sich vergnügt an, als würde es ihr Freude bereiten, mit ihm zu plaudern. “Was redet man so mit einem älteren Herrn? Sollte ich mich nach deinem Rheuma erkundigen? Oder dir Oberschenkelhals- und Beinbruch wünschen?”

“Du könntest fragen, ob ich dich vermisse”, schlug Maxim vor.

“Oh, hast du versucht, mich zu erreichen? Ich war für ein paar Tage mit einer Freundin auf den Seychellen. Nichts Besonderes. Ein Wochenendtrip zum Tauchen.”

“Wie hast du meine Adresse bekommen?”

“Der Graf hat’s arrangiert. Beziehungen zur Polizei, glaub’ ich. Was ist das für ein Fossil, mit dem ich mich eben unterhalten habe? Dein Leibwächter? Hast du ihn von ‘nem Altersheim abgeworben?”

“Janik ist im Haus für mich tätig.”

“Und was erledigt er so? Schneidet dir die Fingernägel? Bindet deine Krawatte? Wahrscheinlich ist er der einzige, der’s noch kann.”

“So schlimm ist mein Rheuma noch nicht”, sagte Maxim. “Wollen wir heute abend zusammen essen?”

“Django möchte dich sehen.”

“Weshalb?”

“Du stellst die falsche Frage ... Schatz”, sagte sie kühl.

“Also gut”, schmunzelte Maxim. “Wann?”

“Jetzt gleich.”

“Er erwartet doch hoffentlich nicht, daß ich nach München komme, ohne den Grund für seinen Wunsch zu kennen.”

“Nur an den Gardasee. Kleiner Ausflug. Auf ein Glas Rotwein. Ich hol’ dich ab.”

“Aber ich habe schon etwas vor”, sagte Maxim. “In einer Stunde treffe ich den ehemaligen Betriebsleiter meines Sägewerks.”

“Sei nicht stur ... bitte, Schatz.”

“Und wenn ich ablehne? Wirft Django dann mit einer goldenen Armbanduhr nach mir, wie sie der Oberinspektor Roßknecht trägt?”

“Lohnt’s, den zu kennen?”

“Eine ornithologische Sammlung würde viel Geld für ihn zahlen”, sagte Maxim. “Man müßte ihn nur vorher zu einem Präparator bringen und ausstopfen lassen.”

“Ach, so ‘was würde Django dir nicht antun”, sagte sie nachlässig. “Ich glaub’, er hätte mehr Freude dran, dich in ‘ner Badewanne einzubetonieren und sie in die Adria zu schmeißen.”

“Eine solche Gemeinheit traust du ihm zu?”

“Vielleicht schiebt er dich auch durch eine Säge in deinem eigenen Sägewerk und verkauft dich als Sägemehl ans Elefantengehege im Münchener Zoo.”

“Du unterbreitest recht gruselige Vorschläge für eine Parlamentärin, die mich überreden soll”, wandte Maxim ein. “Wann kommst du?”

“Oh, ich bin schon auf dem Weg.”

“Bleibt es bei unserem Abendessen?”

“Ist ein bißchen riskant, sich heute mit dir zu verabreden”, sagte Sarah. “Schließlich möchte ich meinen Hummer nicht auf einem Sargdeckel serviert bekommen. Aber wenn du meinst, daß du den Gedankenaustausch mit Django überlebst ...”

.......

Kapitel 18

“Hat Lisa Sie nicht angerufen?” Boris warf einen unvermeidlichen Seitenblick auf Anna. “Sie hat mich um eine Art Benefizkonzert für ihren Bruder Antonio gebeten.”

“Jedenfalls vielen Dank für den Walzer”, sagte Anna. “Ich will rasch schauen, ob meine Tante da ist.”

“Versprechen Sie, an unsere Verabredung zu denken?”

“Ich bin gleich zurück”, nickte sie. Bevor Maxim etwas einwenden konnte, war sie verschwunden.

“Zu Ihrer neuen Freundin darf ich Ihnen ausdrücklich gratulieren”, sagte der Pianist. “Aber bevor Sie überlegen, in welche Schläfe Sie mir wegen belanglosen Halbweltgeflüsters schießen sollen, bitte ich Sie , mir zu glauben, daß ich mit Lisa nie mehr als einen Händedruck getauscht habe.”

“Ist genug zu trinken da?” Maxim hatte Schwierigkeiten, Boris zu folgen. Seine Stimme erinnerte ihn an Lee Marvin, der zu allem, was der Klavierspieler sprach, ein um zwei oder drei Worte versetztes, ins Amerikanische verfremdetes Echo beisteuerte.

“Vielen Dank. Ihr Personal hat sich höchst aufmerksam um uns gekümmert.” Boris schlug ein paar Tasten an und wartete, bis sich in seinen Gedanken eine Melodie formte. “Den netten Jungen sollten Sie, wenn ich einen Rat geben darf, nach Hause schicken, bevor Antonio nachher kommt.”

“Das wird nicht nötig sein”, sagte Maxim.

“Unterschätzen Sie Ihren Schwager nicht. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat ... Außerdem hängt Lisa sehr an ihm. Sie liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab.” Boris war bei einer Mazurka angekommen. “Und der Junge ... dieser Thomas ... Ich will nicht behaupten, daß man einem wie ihm in jedem Großstadtbahnhof begegnet. Aber er hat ein leichtlebiges Temperament ... zugänglich ... anpassungsfähig ... dem schnellen Geld nicht abgeneigt ...” Ein trauriges Lächeln schlich über seine Lippen, während ein leiser Ekel seine Mundwinkel herabzog. “Und eines Tages steht ihm der Morast bis zum Kinn.”

“Falls Sie für diesen Abend noch etwas vorhaben, lassen Sie sich bitte nicht aufhalten”, sagte Maxim.

“Ja, wir wollen einen Freund in der Nähe von Siena besuchen. Ihm gehört dort ein ehemaliges Kloster. Er feiert heute seine Verlobung mit einem hübschen jungen Mann aus bester Familie.”

“Ein geschmackvoller Rahmen für einen heiteren Herrenabend”, sagte Maxim.

Boris nickte geduldig. “Es wird deshalb nicht gleich Schwefel und Feuer regnen, zumal der Bräutigam gewichtige Fürsprecher im Himmel hat. Er ist mit zwei verstorbenen Kardinälen verwandt. Ich spiele übrigens nur weiter, damit die anderen da draußen uns nicht stören. Können wir offen reden?”

“Worüber?”

“Alex.”

“Falls Sie erwarten, daß ich für die Beerdigungskosten aufkomme ...”

“Ich denke nur an sein Geschäft”, versicherte Boris.

“Für einen Winzer wie mich”, winkte Maxim ab, “ist das eine ziemlich entlegene Branche.”

“Seien Sie nicht töricht”, beharrte Boris mit der Gutmütigkeit eines Bankrotteurs, der einem anderen hoffnungslosen Schuldner Mut zusprechen möchte. “Alex hatte ein fabelhaftes Konzept. Eine Lizenz zum Gelddrucken könnte auch nicht mehr einbringen.” Offenbar war der Ertrag, den er sich ausrechnete, groß genug, um ihn aus der Fassung zu bringen. Das Tempo seines Spiels beschleunigte sich. Schließlich stürmte die Melodie geradezu davon.

“Sie müssen heute nicht alles vortragen, was Chopin jemals komponiert hat”, sagte Maxim.

“Wir könnten teilen”, schlug Boris mit schleppender Stimme vor. Im Gegensatz zu seinen Händen verriet sie nichts von seiner Erregung.

“Ja, mit den Fischen in der Adria oder mit den anderen Toten im Keller der Münchener Gerichtsmedizin”, sagte Maxim. “Es gibt noch mehr Interessenten für den Nachlaß. Zumindest mit einem von ihnen ist nicht zu spaßen.”

.......

Kapitel 29

Anna streichelte geduldig die Brust der Katze, während diese unbekümmert zwei frische, blutrote Krallenspuren an ihren Fingern beleckte. Sie blickte überrascht auf, als Maxim nah an das Sofa herantrat.

Wie glücklich sie aussieht, dachte er. In ihrer Nähe spürte er den sanften Reiz allmählichen Erwachens, als hätte er bisher ein fremdes Leben geführt, das einer Irrfahrt oder, eher noch, einer Folge zielloser Fluchten glich, und stände erst jetzt im Begriff, sein eigenes, ihm von jeher vorbestimmtes, zu beginnen.

“Sobald du fort bist, fühle ich mich ganz verlassen in diesem großen Haus”, sagte sie.

Er zeigte ihr seine Pistole. “Kannst du damit umgehen?”

“Nein. Wozu auch?” Ein Schatten von Unruhe glitt über ihre schöne Stirn.

“Ist ganz einfach”, sagte Maxim. “Halt sie mit beiden Händen. Durch den Rückstoß neigt sie dazu, leicht nach links oben zu springen. Achte nicht auf Kimme und Korn. Leg den linken Finger ausgestreckt an den Gasdruckbehälter unter dem Lauf. Siehst du? So. Wenn du jetzt auf dein Ziel deutest, wirst du es auch treffen. Du kannst unbesorgt sein.”

“Die Waffe wird wahrscheinlich nirgendhin schießen.” Anna schürzte die Lippen. “Ich weiß ja nicht einmal, wo sich die Sicherung befindet.”

“Sie hat keine. Man hält sie etwas fester und drückt dabei auf diesen Hebel im Griff. Hörst du, wie er einrastet? Er spannt den Schlagbolzen.”

“Und warum erklärst du mir das alles?”

“Ist nur eine Vorsichtsmaßnahme”, sagte Maxim.

Anna ergriff die Pistole mit den Fingerspitzen und legte sie vor sich auf den Tisch. “Aber Maxim, das kann ich mir unmöglich alles merken. Wenn du glaubst, daß etwas nicht in Ordnung ist ... warum rufst du nicht einfach die Polizei?”

“Sie ist doch schon im Haus. Außerdem würde ich mir nie verzeihen ...” Er schwieg, wollte sie schonen. Sie sollte nicht wissen, welcher schreckliche Gedanke ihn gerade beschäftigte.

“Bitte bleib hier”, sagte sie leise. “Ich habe Angst, daß dir etwas zustoßen könnte.”

“Du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich werde vorsichtig sein.” Er zog die Tür hinter sich zu. Der Jagdhund wollte ihm nachstürzen. Er hörte ihn winseln und Annas sanfte Stimme, die ihn zu trösten versuchte. Braver Franz. Er hätte ihn gern bei sich gehabt. Aber er wollte ihn nicht in Gefahr bringen. Man führte keinen Hühnerhund auf der Sauenjagd.

Maxim wartete, bis die Tür von innen abgeschlossen wurde, nahm den Colt Python aus seinem Gürtel und stieg die Treppe hinunter.

.......

Kapitel 31

Die Dunkelheit durchwehte Veilchenduft. Er lockte Schwärme von Nachtschmetterlingen an. Ihre zarten Flügel verwoben sich zu einem anmutig gewellten Schleier. Eine Madonna bedeckte damit ihr Haar. Oder war es Persephone? Sie stand im oberen Gang eines Klosters. Die Mönche destillierten dort Veilchenwasser. Es schien aussichtslos, sich den Namen ins Gedächtnis rufen zu wollen. Die Silben wirbelten in einem Mahlstrom. Maxim fischte sie heraus. Jede von ihnen weckte einen stechenden Schmerz in seinem Hinterkopf. Mühsam setzte er zwei Worte zusammen. San Giovanni ... und weiter? Evangelista?

Womöglich hielt man ihn in einem sardischen Kloster versteckt. In einer der dämmerigen Zellen war er aufgewachsen. Jetzt durfte er nicht mehr fort. Auf einmal befiel ihn eine kindliche Angst, daß es nie wieder richtig hell werden könnte.

Ein exotischer Falter trudelte auf eine Kerzenflamme zu. Rauch kräuselte empor und verbreitete Krematoriumsgeruch. Maxim träumte von einer zwitterigen, in einen Speckmantel gehüllten Stimme. “Hol doch mal ein Glas Wasser, Toni”, sagte sie. Das half ihm, sich zurechtzufinden. Eine steinerne Madonna. Antonio Begarelli hatte sie geschaffen. Vor vierhundert Jahren. Und das Kloster befand sich nicht auf Sardinien, sondern in Parma.

Erleichtert tauchte er wieder in die Dunkelheit. Abwärts wandte er sich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht, die Novalis besang. Irgendwen sollte er dort suchen. Aber er erinnerte sich nicht, wer es war.

Schlafen konnte er ohnehin nicht mehr. Etwas kitzelte an seinem linken Ohr. Seine Arme kamen ihm gefühllos vor. Sobald er sich zu bewegen versuchte, spürte er ein leises Prickeln und Kribbeln.

Lisa mochte keinen Veilchenduft, dachte er, aber vielleicht Toni, der kleine Stricher.

Maxims Kopf sackte auf seine Brust. Schaudernd malte er sich aus, wie er vom Hals fiel und zwischen seine eigenen Füße rollte. Ein Weidenflechtkorb stand bereit. Eine große, rauhe Hand packte den Kopf an den Haaren und warf ihn hinein.

Erschrocken öffnete Maxim die Augen. Sein Sakko war voller Blut. Und anscheinend hatte er eine von Sarahs Puppen zerbrochen. Sie kam ihm ungewöhnlich groß vor und lag, in einen Nebel gehüllt, mit verrenkten Gliedern auf dem grünen Tuch eines Seziertisches. Ein riesenhafter Fettwanst flickte unbeholfen an ihr herum.

Die Schwaden verflüchtigten sich. Mit jedem Atemzug sah Maxim klarer. Von Sarah fehlte jede Spur. Er saß auf einem wackeligen Stuhl. Seine Hände waren hinter der Rückenlehne gekreuzt und an deren Rahmen festgebunden. Außer ihm befand sich niemand im Zimmer. Nur ein Toter leistete ihm Gesellschaft.

.......

 

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